Urlaub an der Costa Brava kann jeder. Wahre Urlaubsprofis suchen ihre Erholung von der Mühsal des Alltags anhand von Reisezielen, die fernab von all-inclusive Angeboten, Bettenbatterien und 99 prozentiger Sonnenscheingarantie liegen, dafür mit der Entdeckung echter terra incognita locken. Der damit mögliche, einhergehende Verzicht auf Bequemlichkeit und Komfort wird als zusätzliches Add-on der Reise gewertet und darüber hinweg gelächelt. Das perfekte Reiseziel, das all dies in idealerweise vereint, ist die Reise mit der transsibirischen Eisenbahn.
9288 km und 6 Tage Kontemplation und innere Ruhe sorgen für die garantierte Erholung, am Ende des Urlaubs. Die Reise auf der längsten Eisenbahnstrecke der Welt zwingt auch den hyperaktivsten Charakter zur Gelassenheit, denn das lange Reise auf sehr limitiertem Raum, nötigen, die viele Zeit bis zum Ziel irgendwie überbrückt zu bekommen. Nachdem man die erste Überraschung ob der zierlichen Ausmaße des Miniabteils verdaut und das Gepäck in der Schuhschachtel mit zwei Pritschen (3m x 1,60m) verstaut und nach einem ersten Erkundungsspaziergang durch den Zug gemacht hat, übermannt einen die Erkenntnis, dass diese kleine Parzelle der Ort sein wird, an dem man sich die nächsten Tage fast ausschließlich aufhalten wird.
Die Flucht ins Internet per Smartphone oder Laptop bringen nur während der wenigen Aufenthalte in den Bahnhöfen kurzzeitige Abwechslung. Glücklich ist da der- oder diejeige, der mit genügend Lesestoff ausgerüstet ist oder dessen Festplatte mit Downloads kompletter Staffeln der aktuellen Serienhits aufwarten kann. In den nächsten sechs Tagen wird niemand auf die Idee kommen, ihn aufgrund des Bingewatchings eines abnormen Verhaltens zu bezichtigen.
Oder man ergibt sich dem „natürlichen Flow“ der Reise und stellt erfreut fest, wie sich langsam eine tiefe Ruhe und Entspannung einstellt. Damit meine ich das ungeplante tun und handeln, wonach es dem Körper oder Geist gerade steht.Etwa stundenlang aus dem Fenster schauen und die nicht enden wollenden Birkenwälder an sich vorbei rauschen sehen. Das viele aus dem Fenster schauen hat ein bisschen müde gemacht? Dann ergib dich der Macht und schließe die Augen und erfreue dich an einem entspannenden Nickerchen. Danach „schnell“ zum Samowar am Ende des Waggons gehen und heißes Wasser für ein Tässchen Tee zapfen. Zwischendrin den am Vorabend gekauften Vodka testen, ihn für sehr gut erachten und vielleicht besser noch gleich einen zweiten zur Sicherheit probieren. Letztendlich ist 14 Uhr Ortszeit eine relative Zahl, wer weiß wieviele Zeitzonen wir schon wieder überfahren haben. Dann wird es wieder Zeit, aus dem Fenster zu sehen und den Gedanken nach zu hängen. Und wenn der Zug dann irgendwo im Niemandsland in einen Bahnhof eines Orts einfährt, dessen Namen man noch nie gehört hat, wobei es sich aber angeblich um eine Millionenmetropole handeln soll, zieht man sich kurz Schuhe und Jacke an und nutzt den kurzen Aufenthalt, um sich die Beine zu vertreten, etwas frische Luft zu schnappen und vielleicht eine Kleinigkeit fürs Abendessen zu kaufen.
So rauschen Zeit und Kilometer vorbei und obwohl man den Tag über weder etwas geleistet noch sonst etwas greifbares getan hat, fühlt es sich kein bisschen wie ein verlorener Tag an. Schön ist auch das Gefühl, nicht mehr alle fünf Minuten das Smartphone nach den neuesten Infos und Nachrichten befragen zu müssen, weil es in den riesigen Weiten Russlands sowieso kein Internet gibt.
Es liegen jetzt noch 3 volle Reisetage im Zug vor uns und ich bin jetzt schon gespannt wie tiefenerholt ich noch werden kann. Lediglich die Nutzung der Hygienefaszilitäten reißen mich immer wieder aus meinem positiven Flow. Deren Anmutung und Technologie scheinen noch aus Stalins Zeiten zu stammen und von einem Spezialteam für Verhörtechniken des KGBs entworfen zu sein. Jeder Delinquent wird bei Androhung, fünf Minuten in der Feuchtzelle des Grauens verbring zu müssen, freiwillig jedes Dokument unterschreiben. Es kostet (nicht nur) mich wirklich viel Überwindung, diese Einzelzellen aus 100 Prozent Stahl und Feuchtigkeit für Notdurft und Toilette aufzusuchen.
Aber wie habe ich zu Beginn so treffend geschrieben? „Der Verzicht auf Bequemlichkeit und Komfort wird als zusätzliches Add-on der Reise gewertet und darüber hinweg gelächelt“. So werde ich es machen. Und am Ende der Reise, bei Streckenkilometer 9288, als kurz vor dem Nirvana stehender Mensch aus dem Zug steigen. Ich lasse mich da mal überraschen.